Macht und Missbrauch

In mir brodelt es schon seit ein paar Tagen.

Es braucht, ehe sich meine viel zu vielen und zu schnellen Gedanken zumindest so beruhigen, dass ich einen Bruchteil derer in Gedanken und dann hier in Schrift fassen kann.

 

Im Moment kann ich meinem Beruf nicht nachgehen, eine blöde Krankheit stellt meinen Körper derzeit ziemlich auf die Probe und zeigt mir doch ums eine und andere Mal, was ich zu lassen habe.

Aber als ich noch arbeitete, war ich u.a. auch in der AG Kinderschutz meines Arbeitgebers.

Einmal als Erzieherin, als Mutter und auch als Fachkraft für Kindswohlgefährdung.

 

Die Aufgabe war, ein (gesetzlich vorgeschriebenes) Schutzkonzept zu entwickeln für die Einrichtungen.

Dabei geht es gar nicht um sexualisierte Gewalt vordergründig, natürlich auch ein Thema, aber das Schutzkonzept ist viel mehr.

Es geht um die Auseinandersetzung mit der eigenen Berufsrolle, den eigenen Werten und Moralvorstellungen, denen des Arbeitgebers, der Sensibilität im Alltag für Grenzen, Macht und um Schutz für Kinder, Mitarbeitende und den Arbeitgeber.

 

So frug uns die externe Kraft, die den Prozess des Konzeptes begleitet zum Beispiel, ob wir generell in unserer Arbeit mit Kindern Macht ausüben.

Viele Kolleg:Innen verneinten, das macht selbstverständlich niemand.

Wie wir die Regeln der Einrichtungen durchsetzen würden, ob wir einen Strafenkatalog oder ähnliches haben, was wir tun, wenn Kinder sich streiten, ein bei einem Ausflug versehentlich die Straße bei Rot überqueren will, ein Kind beim Essen auf Toilette möchte, ein Kind wiederholt stört, beim Essen nicht probieren will, und viel mehr.

Letztlich total klar: Am Ende sitzen die Mitarbeitenden am längeren Hebel.

 

Und zack: Das ist der Punkt. Die Mitarbeitenden setzen durch, was sie für richtig halten.

Es bleibt unbestritten, dass wir Macht haben, auf und über die Kinder und sie tagtäglich einsetzen.

Und manchmal auch mit Gewalt.

 

Da gibt es den Kollegen, der die Kinder an der Hand fasst und zwei Streithähne auf die Bank setzt.

Damit sie darüber nachdenken, was das soll. Und damit sie runterkommen.

 

Und die Kollegin, die dem Kind sagt, während des Essens wird nicht aufgestanden, es solle das nächste Mal (bitte) daran denken, vor dem Essen auf Toilette zu gehen.

 

Und dann die Kollegin, die darauf besteht, dass das Kind auch beim Toben die Jacke zu macht, sonst kann es nicht raus (natürlich gehen alle raus, es ist schließlich nun Zeit dafür).

 

Der Mitarbeitende, der dem Kind sagt, es müsse wenigstens noch drei Gabeln essen, es habe heute nicht gut gegessen und wenn das Kind nicht will, dann können die anderen rausgehen und das Kind muss dann eben die Spülmaschine einräumen.

 

Und dann ist da auch noch das Kind, das in der Pause strafsitzen muss, weil es die Hausaufgaben nicht gemacht hat, im Unterricht gezappelt hat, die anderen gestört hat, oder was auch immer, sucht euch was aus.

 

Ach und die Eltern erst…. Wir Halbgötter in bunt wissen eh alles besser.

 

Da ist ne Menge Frustration drinnen bei mir, ich hadere oft mit meinem Berufsstand.

 

Auf dem ersten Elternabend erkläre ich den Eltern u.a. auch, dass es normal ist, dass ihr Kind sich streiten wird, dreckig macht, dass es Konflikte geben wird, unmotiviert und bestimmt auch mal meckert. Und dass das gut ist.

Dass ich mich über jedes Kind freue, dass mir widerspricht.

Für jedes fragende „Wozu soll ich das machen“, „Nein, das mache ich nicht“ und jedes „Ich will das nicht“ gibt’s von mir gedanklich ein kleines Freudenfeuerwerk.

Jedes Mal, wenn ein Kind „frech“ ist, mich eiskalt auflaufen lässt oder gar „ungehorsam“ wird, sollen sich die Eltern freuen, denn das ist ein guter Weg kein AfD-Wählende*r zu werden.

 

Krass, oder?

 

Lasst euren Empörungsschrei noch etwas stecken, liebe Pädagog*innen, da kommt noch mehr.

 

Wir erklären den Kindern so oft, dass sie dieses oder jenes tun oder lassen müssen, weil es nun mal so ist.

Weil die Gruppenregel/Familienregel das so hergibt, weil um 14h nun mal rausgegangen wird, Essen probiert wird, sich „richtig“ hingesetzt wird, das Abschreiben der Schulregeln einen pädagogischen Grund hat, sicherlich.

Natürlich muss ich bei meiner Chefin auch den Arbeitsvertrag dreimal abschreiben, wenn ich einen Antrag nicht korrekt eingereicht habe, ganz klar.

Natürlich.

 

Ich könnte mich stundenlang darüber echauffieren, weshalb dieses und jenes in unserem (Erziehungs-, Gesellschafts-, Schul-, Familien-)System so ist, weshalb so viele Menschen Kindern gegenüber so entsetzlich machtbesessen sind, so übergriffig, so abwertend.

Ja, ich weiß, wie es heute in Schule, KiTa, Familien zu geht, lasst stecken.

 

Ich habe in meiner Anstellung kein Kind je bestrafen müssen.

Wozu auch?

 

Ich bin der festen, festen, festen Überzeugung, dass Kinder keinen Respekt vor Erwachsenen haben müssen, weil sie eben erwachsen sind.

Echt nicht.

Ich glaube Menschen sollten Respekt vor Menschen haben, egal ob groß oder klein.

 

Ein Kind, voll bepackt mit Dingen, Taschen und co will durch eine Tür gehen, welche Erwachsenen halten diese wie selbstverständlich auf, wenn sie dort stehen?

Wie viele Erwachsene zeigten dem Kind den Respekt und lassen es ausreden, wenn es spricht?

 

Kleine Anekdote aus meiner Kindheit:

Ich habe mich mit meiner Mutter gestritten, ich war grobe Richtung 12 Jahre alt.

Irgendwann bekam ich den Satz zu hören: „Wie sprichst du mit mir, ich bin deine Mutter!“

Ich habe entgegnet: „Wie sprichst du mit mir, ich bin dein Kind!“

Heieieieiei, DAS war ne Nummer, trifft es aber auf den Punkt.

 

Kinder sind viel zerbrechlicher als die meisten Erwachsenen.

Kinder müssen noch nicht alles können.

Kinder dürfen Fehler machen und nicht nur kleine Erwachsenen sein.

 

Möchte ich meinem Kind Respekt beibringen? Dann lebe ich dies vor.

Möchte ich meinem Kind beibringen, stark zu werden? Dann lasse ich es auch sich behaupten vor den Erwachsenen.

 

Ich habe meine Kinder gut aufgeklärt, dass sie laut „Nein“ sagen sollen, wenn sie in einer schwierigen Situation stecken, z.B. wenn sie jemand mitnehmen möchte, der sie nicht kennt.

Für mich war aber klar: Wenn sie nicht vorher auch schon mal sich positionieren konnten vor einem Erwachsenen und dabei positive Erlebnisse haben, wird das nicht klappen.

 

Solche Situationen sind Ausnahmemomente und, ganz nebenbei, ca 70% der Fälle von sexualisierter Gewalt kommt aus dem engsten Familien- und Freundeskreis.

 

Ich als Erwachsene habe IMMER eine Machtposition bei Kindern, IMMER.

Alleine schon durch die körperliche Überlegenheit.

Ich meine damit nicht, dass Kinder die gleichen Entscheidungskompetenzen haben können wie Erwachsene, den diese tragen die Verantwortung, aber bei jeder Entscheidung die ich für ein Kind oder gar eine Kindergruppe treffe (und an einem normalen Gruppentag sind das sau viele), erschaffe ich ein Ungleichgewicht. Und dessen muss ich mir bewusst sein. Denn dieses System kann (und wird) von vielen vielen vielen ausgenutzt.

 

Ich halte ein Kind fest, damit es nicht über die Straße läuft: Es ist der Gebrauch von Macht, von Überlegenheit und auch von Gewalt.

Klingt komisch? Auch wenn es zur Abwehr von Gefahr notwendig war, war es das dennoch.

 

An diesem Beispiel habe ich lange geknabbert und diese unendlich erscheinende Tiefe meiner Macht als Erwachsene begreifbar gemacht…

Und wenn wir jetzt einfach mal das Wort Kind durch Mensch ersetzen, dann wird es vielleicht klarer.

 

Darf seine Lordschaft mir sagen: „och, du hast bestimmt noch Hunger, iss erst auf, dann kannst du weitermachen, sonst bleibst du sitzen“ sagen?

Darf mich nach einer nicht erledigten Arbeit meine Chefin dazu bringen, meinen Arbeitsvertrag dreimal abzuschreiben, damit ich es fürs nächste Mal weiß?

Darf mein Bruder mich an der Hand packen und mich für 10 Minuten auf ne Bank setzen, damit ich darüber nachdenke, weshalb ich den Nachbarn nicht als Blödmann beschimpfen soll?

 

 

Runtergebrochen ist Macht, wenn sich eine Partei in einer „besseren“ Lage befindet, als das Gegenüber. Also am längeren Hebel sitzt.

Dabei kann es um Hierarchien im Job gehen, um staatliche Gewalt, um Bekanntheitsgrade und um so viel mehr.

Wenn die sprichwörtliche Waagschale nicht im Gleichgewicht ist, ist Vorsicht geboten.

 

Diese Waagschale stelle ich mir bildlich oft vor, bzw. habe sie mir beruflich oft vorgestellt, das hat mir geholfen, mich zu erklären, mich zu reflektieren, mir bewusster zu werden, wie ich handele. Ganz oft natürlich auch unbewusst handele.

Und frei von Fehlern bin ich nicht, keine Frage und auch noch mitten im Prozess.

 

Mir fliegen die Gedanken schon wieder so, lauter Gedankenketten und ich wünschte, ich könnte sie hier alle aufschreiben…

 

Von meinen Erlebnissen in einer Studentenverbindung hatte ich bereits geschrieben, vom Missbrauch eines meiner Kinder auch.

In allen Situationen war diese Waagschale natürlich nicht im Gleichgewicht.

Aus unterschiedlichen Gründen.

Und einer der Gründe war auch, dass die Täter sich überlegen gefühlt haben, dass sie bewusst dieses Ungleichgewicht geschaffen und damit gespielt haben. Eine bewusste und unbewusste Strategie.

 

Jede Frau die ich näher kenne, hat bereits Übergriffe erlebt.

Jede.

 

Und wenn wir nun einmal in den oberen Abschnitt mit den kleinen Menschen, den Kindern zurück springen und uns erinnern, wie oft bei ihnen Macht angewandt wird, sollte klar sein, dass Übergriffe mehr sind, als eine vollendete Vergewaltigung.

( Das war gerade ein großer Schritt für mich, dieses Wort verwende ich nicht, spreche es nicht aus und schreibe es auch nicht nieder).

 

Als ich einmal jemandem von einem meiner Erlebnisse berichtet habe, erklärte der mir

„Und? Im Krieg und überall auf der Welt passiert so was täglich. Glaubst du, du bist was besonders, weil dir das passiert ist?“

 

Als Jugendliche erzählte ich an einer Hotline von einer, vor meinen Augen nicht mehr ganz so klaren Situation.

„Hast du Beweise? Man muss ja auch den Mann schützen vor falschen Beschuldigungen.“

 

Eine Freundin begleitete ich durch den Behördenalltag, nachdem ihr damaliger Freund sie zunächst besinnungslos würgte und sie dann vergewaltigte.

Erstanruf bei der Polizei:

„Das ist ja schon zwei Wochen her, warum hat ihre Freundin sich nicht schon früher gemeldet?

Und warum sollte ihr Freund das tun, da stimmt doch was nicht“

Der Kerl wurde übrigens für 2 ½ Jahre eingesperrt, glücklicherweise.

Ich sehe ihn noch oft, er wohnt in unserem Viertel, geht dort mit Hund und Tochter spazieren und ich bin jedes mal getriggert und denke an die brutalen Verletzungen meiner Freundin.

 

Mich selbst hat es mehrfach erwischt.

Nichts habe ich zur Anzeige gebracht, nach dem Erlebnis mit der Polizei bei dieser Freundin bin ich mir auch sicher, es war zu dem Zeitpunkt auch richtig. Auch, wenn die 2010er schon angebrochen waren, herrschte noch mal mehr … Unverständnis…

 

Es ist eine Täterstrategie, den Betroffenen das Ungleichgewicht der Waagschale der Macht spüren zu lassen. Und dies auch immer und immer wieder.

 

Ich habe erst durch seine Lordschaft große Schritte gemacht, im Kleinen anzufangen, mich zu behaupten. Ich musste mich immer viel anpassen, durfte Entscheidungen für mich als Kind oft nicht selbst treffen… Weder wieviel ich wann esse, noch ob ich eine Jacke brauche oder nicht, sollte lieb sein, das machen, was die Erwachsenen sagen, es so machen, wie x oder y es wollt, da die klügere sein, die nachgibt, hier die Augen zu und durch machen… so, wie es halt damals so war eben….

 

Ich habe aber nicht gelernt, mich gegen meinen blöden Nachbarn durchzusetzen.

Wie denn auch?

Wenn mir (als Kind) Erwachsene etwas gesagt haben, dann war das eben so. Punkt.

 

Inzwischen sind wir gesellschaftlich ja zum Glück weiter.

Und uns unserer (Macht-)Positionen bewusster.

 

Kinder müssen lernen dürfen, sich zu behaupten.

Und: Mit dem kleinen fängt man an, mit dem großen hört man auch.

 

Ich habe irgendwann angefangen meinen Kindern Fragen zu stellen, von denen ich wusste, dass sie sie verneinen… z.B. „Hast du auf xy Lust?“ oder „Hast du dieses jenes gemacht?“

Damit sie lernen, dass sie mir auch „Nein“ sagen dürfen.

Und dass das komplett ok ist.

 

Und trotzdem hat es bei einem unserer Kinder nicht gereicht.

Es ist dennoch von sexualisierter Gewalt betroffen gewesen.

 

Das Verfahren in diesem Fall wurde eingestellt, weil der Täter zu den Tatzeitpunkten minderjährig und strafunmündig war.

 

Kein Verfahren, kein Gespräch darüber, kein getriggerter Moment dazu ist einfach, leicht oder gut wegzustecken.

 

Weil es solch menschliche Abgründe offen legt, möchte unser Gehirn den Zustand der Kohärenz herstellen, deshalb schiebt es diese Gedanken dazu weg. Die Beschäftigung mit diesen Themen ist zu schwer zu ertragen, besonders, wenn Menschen emphatisch sind.

 

Einer der Täter bei mir ist übrigens inzwischen Anwalt und Kommunalpolitiker…

Selbst, wenn ich eine Anzeige erstattet hätte, die wäre die Waagschale, bevor das erste Wort gesprochen wurde?

 

Es passiert viel öfter, als wir glauben, als wir aushalten können…

 

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